Sonntag, 8. Dezember 2013

Auf den Nullpunkt

Die historisch einmalige Geldpolitik der Zentralbanken in den kapitalistischen Zentren besteht aus immer weiteren Zinssenkungen. Damit wird es aber bald vorbei sein.

Am 07. November senkte die EZB den Leitzins auf 0,25 Prozent und reagierte damit auf die deflationären Tendenzen im europäischen Wirtschaftsraum. Dem DAX gefiel‘s, er wurde durch den so genannten „Draghi-Effekt“ in weitere unbekannte Höhen manövriert und knackte erstmals in seiner Geschichte die 9200 Indexpunkte.
In den Mainstreammedien war das Rätselraten darüber groß, was das nun bedeuten und welche Folgen das haben könnte, bis – endlich, endlich – der immer unvermeidlichere Professor Hans-Werner Sinn dem Ganzen selbigen absprach. Bemerkenswerter Weise mit der Begründung, die Niedrigzinsen erleichterten den Druck auf die Südländer, „überfällige Reformen“ durchzuführen. Diese hätten in den letzten fünf Jahren trotz der Niedrigzinsen und Rettungsschirmen keine ausreichenden Fortschritte hinsichtlich ihrer Wettbewerbsfähigkeit gemacht, weshalb sie jetzt mit Hilfe der Konkursdrohung endlich zum Sparen verdonnert werden müssten. Das meint Sinn durchaus ernst, auch wenn es in den gemeinten Südländern längst nichts mehr einzusparen gibt und die Sparpoltik zu einer Verschärfung der Rezession geführt hat.
Derweil verkündete Draghi: „Wir haben die Null-Linie noch nicht erreicht. Wir könnten vom Prinzip her noch weitergehen.“
Was wie ein lustiges Spielchen mit ein paar Zahlen und Prozentpunkten aussieht, ist in Wahrheit Ausdruck eines Problems, das sich offenbar immer weiter zuspitzt und dessen Ursache in mangelnden Investitionsmöglichkeiten in der Waren produzierenden Wirtschaft liegt.
Die EZB ist zu der Niedrigzinspolitik aus den gleichen Gründen gezwungen, wie die Fed in den USA: In einem Investitionsumfeld mit miesen Aussichten auf Gewinne aus substanzieller Geschäftstätigkeit muss die Wirtschaft ihre immer höheren Vorauskosten mit Kreditgeld bestreiten. Je größer aber die Überkapazitäten werden, desto geringer werden auch die Gewinnaussichten und desto geringer die Neigung der Banken, den Unternehmen Geld zu leihen. Die EZB kann darauf nur mit weiterer Verbilligung von Kreditgeld reagieren in der Hoffnung, die begünstigten Geschäftsbanken mögen doch das Geld an die Unternehmen weitergeben. Irgendwann, so das offenbar äußerst schlichte Kalkül, muss doch Geld so günstig zu haben sein, dass es sich wieder lohnen könnte, in realwirtschaftliche Aktivitäten zu investieren.
Angesichts der immer problematischeren Akkumulationsbedingungen des Kapitals in großen Teilen der Welt ist dies eine äußerst vage Hoffnung.
Eine niedrige Inflationsrate bei dem bereits spätestens seit 2008 bestehenden Niedrigzinsniveau müsste eigentlich selbst von Ökonomen dahingehend gedeutet werden, dass sich immer weitere Überkapazitäten im globalen kapitalistischen Betrieb auftürmen. Auch in VWL-Lehrbüchern kann man schließlich nachlesen, dass deflationäre Tendenzen genau darauf hindeuten.
Nun hat Draghi zwar recht, dass man mit 0,25 Prozent die Null-Linie noch nicht erreicht hat, aber selbst ihm dürfte aufgefallen sein, dass diese Linie immer näher rückt, ohne dass die Maßnahmen der Zentralbanker den gewünschten Effekt zeitigen würden.
Das marktradikale Wochenmagazin „Der Spiegel“ wunderte sich in seiner Online-Ausgabe derweil über die Tatsache, dass irgendwie nichts klappt wie es soll: „Eigentlich müsste es also Kapital im Überfluss geben, die westliche Welt einen beispiellosen Wirtschaftsboom erleben. Doch davon kann keine Rede sein. Die Euro-Zone krebst am Rande der Rezession und hofft laut Prognose der EU-Kommission für 2014 auf ein Mini-Wachstum von 1,1 Prozent. Auch in den USA gibt es eigentlich kein echtes Wachstum - zieht man einmal die zusätzliche Nachfrage ab, die das Land mit seinem noch immer gewaltigen Haushaltsdefizit künstlich erzeugt. Und auch Japans Wachstum bräche ohne immer neue Staatsschulden sofort zusammen.“
Man weiß beim Spiegel nicht mehr ein noch aus und repetiert die Begründungsversuche der Volkswirtschaftslehre: „Vom immer weiter abnehmenden Grenznutzen des technischen Fortschritts (die Erfindung des PC brachte mehr als die siebenundzwanzigste iPhone-Variante) bis zu einer zunehmenden Sättigung der Märkte (das dritte Auto macht weniger Spaß als das erste). Doch eine wirkliche Erklärung fehlt bis heute.“
Was natürlich heißen müßte: Eine wirkliche Erklärung fehlt bis heute jenen, die das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate als spekulative Annahme verwerfen, obwohl sich anhand langfristiger empirischer Wachstumsdaten zeigt, dass der von Marx beschriebene Mechanismus unumgänglich ist.
Wenn der tendienzelle Fall zum absoluten wird, weil der Markt global und die Arbeit bis zum Geht-nicht-mehr intensiviert ist, kann die Politik zumindest geringe Wachstumsraten nur noch durch Geld- und damit Kreditschwemme herstellen. Der Preis für Geld ist aber eben nich ewig senkbar. Es ist nun nicht schwer zu prophezeihen, dass der Tag naht, an dem die Notenbanken ihr Pulver verschossen haben werden. Unter null kann der Zins nicht fallen, das wird der hartnäckigste Kapitalismusfan zugeben.
Die nächsten krisenhaften Verlaufsformen des Spätkapitalismus nehmen konkrete Züge an. Statt jedoch endlich darüber nachzudenken, wie eine globalisierte Gesellschaft organisiert werden wird, wenn die Wertverwertung an ihr Ende kommt, werden die Verzweiflungsakte der Notenbanker als „geldpolitische Kniffe“ gepriesen und ein Gesellschaftssystem auf Biegen und Brechen verteidigt, von dem man nicht einmal sagen kann, was denn daran verteidigenswert wäre.

Erschienen in Graswurzelrevolution 384 (November 2013)
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