Donnerstag, 30. Januar 2014

Kurz vor Gnade und Willkür

Die Vorgänge um die Demo zum Erhalt der „Roten Flora“ am 21.12. 2013 in Hamburg verweisen auf die Gefahr eines sich verselbständigenden Gewaltmonopols

In Kambodscha wurden Anfang Januar drei Textilarbeiter nach tagelangen Massenstreiks erschossen, bei denen es um eine Anhebung der Monatslöhne auf 115 Euro gegangen war. Man könne, so ein Militärsprecher laut FAZ, „ihnen nicht gestatten, die Straße zu blockieren“, und da sich die Streikenden mit Stöcken gegen die Sicherheitskräfte zur Wehr gesetzt hatten, wurde geschossen: „Wir haben keine Wahl.“ Via „Hamburger Morgenpost“ hatte wenige Tage zuvor auch die Hamburger Polizei nach den Auseinandersetungen anlässlich des Erhalts des autonomen Zentrums „Rote Flora“ (siehe nebenstehenden Erfahrungsbericht) ausrichten lassen: „Wir schießen nächstes Mal scharf!“ Als Grund für das Festsetzen und Einkesseln des Demozugs nach wenigen Metern und damit den Beginn der Eskalation nannte der polizeiliche Einsatzleiter Peter Born allen Ernstes, die Demo sei zu früh losgelaufen. Später hieß es, Polizisten seien von einer Brücke aus mit Steinen beworfen worden, dann war es plötzlich der Verkehr, der auf der zugelassenen Demoroute noch nicht umgeleitet gewesen sei, weil „noch nie ein Aufzug pünktlich losgegangen ist“.
Auch in Griechenland muss gewarnt werden, wer sich auf die dortige Version der Exekutive verlässt. Deren Personal wählt laut einer Umfrage zu bis zu 25% die Nazi-Partei Chrisi Avgi und man braucht also etwas Glück, wenn man von Neonazis bedroht wird und auf griechische Polizisten stößt. Jeder vierte Beamte wird den Faschisten eher Amtshilfe leisten, als sie an ihrem Tun zu hindern. Auch die Muslimbrüder in Äqypten haben zuletzt so ihre Erfahrungen mit der monopolisierten Staatsgewalt gemacht. Wenn die Interessen der Militärs nicht mehr mit denen der Legislative und/ oder Judikative übereinstimmen, ist es mit der demokratisch legitimierten Verfassung eben perdu. Präsident Mursi wurde kurzerhand verhaftet. So schnell kann’s gehen.
Die Einschätzung, gewaltmonopolisierte Staatlichkeit sei per se ein zivilisatorischer Fortschritt, geht auf den bürgerlichen Staatstheoretiker Thomas Hobbes und seinen Krieg aller gegen alle zurück. Hobbes erklärte bekanntlich den Menschen zu „des Menschen Wolf“. Der menschliche „Naturzustand“ sei nur durch staatliche Gewaltausübung zu zähmen und Hobbes begründet die Notwendigkeit einer rechtsmäßigen Ordnung mit der Notwendigkeit zu schließender und einzuhaltender Verträge und damit, dass dem angeblich barbarischen Naturzustand der Menschen ein Ende zu setzen sei.
Die Mehrheit der Menschen sei bereit, „sich gewissen Anordnungen, welche die bürgerliche Gesellschaft erfordert, zu unterwerfen“, um dadurch „ sich selbst zu erhalten und ein bequemeres Leben zu führen“. Wer die bürgerlichen „gewissen Anordnungen“ moderner Zivilisationen aber für überwindenswerte Ausbeutungs- und Verblödungsverhältnisse hält, kann sich auf etwas gefasst machen: „Gesetze und Verträge können an und für sich den Zustand des Kriegs aller gegen alle nicht aufheben; denn sie bestehen in Worten, und bloße Worte können keine Furcht erregen; daher fördern sie die Sicherheit der Menschen allein und ohne Hilfe der Waffen gar nicht.“ Der Stärkere als Autorität verschwindet also in einer staatlichen Gewaltordnung keineswegs - ganz im Gegenteil: „Mit der Unterwerfung wird der Stärkere ein für alle mal festgeschrieben und dieser Stärkere nimmt für sich auch noch das Recht in Anspruch“, kommentiert der Rechtstheoretiker und Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld, Andreas Fisahn, Hobbes Argumentation.
Die Legitimität von Rechtsordnungen und den damit verbundenen „Zwangsapparaten“ besteht indes laut Max Weber darin, dass individuelle „Chancen“ innerhalb einer solchen „Geltung“ von einklagbaren Rechten jedem Einzelnen zustehen, und zwar unabhängig von „Gnade oder Willkür“ einer personalisierten Herrschaftsinstanz. Diese Bedingung ist aber in letzter Konsequenz vom „guten Willen“ der vermeintlich „legitimen“ und „legitimierten“ Waffeninhaber abhängig. Der gute Wille des Gewaltmonopols wird indes sofort fraglich, wenn die Rechtsordnung nicht (mehr) im Einklang mit den Interessen der bewaffneten Akteure steht und daher ist die Geltung einer Rechtsordnung, deren Durchsetzung von bewaffneten Gruppen abhängt, dauernd prekär und nur einen Schritt von „Gnade oder Willkür“ entfernt. Das zeigt sich am sichtbarsten in großen Teilen der Welt in einer überbordenden Korruption. Aber auch in Hamburg wird unterdessen darüber diskutiert, wer eigentlich die Politik in der Stadt bestimme, der Senat oder die Polizei?
Die Legitimation physischer Zwangsapparate wird vor diesem Hintergrund selbst prekär und Demokratie bleibt dem Staat bis dahin sowieso äußerlich, die Staatlichkeit an sich ist nicht demokratisch konstituiert. Sie „erhält nur die Funktion, staatliche Herrschaft zu legitimieren.“(Fisahn) Die eigentliche Herrschaftsinstanz, nämlich die abstrakte Staatlichkeit, ist im liberalen Diskurs von Hobbes bis Hegel nicht von einem demokratischen Verfahren abhängig. Sie wird samt Gewaltmonopol ontologisiert und erhält durch demokratische Verfahren bloß noch eine Bonuslegitimation nach dem Motto: Seid ihr dafür oder dafür?
Die abstrakte Staatlichkeit tritt dem Einzelnen gleichsam als Naturgewalt entgegen und zeigt damit strukturelle Gemeinsamkeiten mit der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation. Ein bewaffnetes Gewaltmonopol ist eben nur da vonnöten, wo Menschen unterdrückt oder zu domestiziertem Arbeitsvieh degradiert werden sollen, nur da, wo es eines „letzten Arguments aller bedrohten politischen Macht“ (Bakunin) bedarf.
Dabei stellte Weber auch fest, dass es in jeder Gesellschaftsformation andere, mindestens genauso wirksame, aber unbewaffnete Korrektive gibt. „Die Androhung eines Ausschlusses aus einem Verband, eines Boykotts oder ähnlicher Mittel, und ebenso das Inaussichtstellen diesseitiger magisch bedingter Vorteile oder Unannehmlichkeiten oder jenseitiger Belohnungen oder Strafen für den Fall eines bestimmten Verhaltens wirken unter gegebenen Kulturbedingungen häufig - für ziemlich große Gebiete: regelmäßig - sehr viel sicherer als der in seinen Funktionen nicht immer berechenbare politische Zwangsapparat.“
Eine gewaltfreie Gesellschaft ist aber selbst für Kritiker wie Fisahn nicht mehr vorstellbar: „Auf Recht und die Befugnis zu zwingen, d.h. auch auf das Gewaltmonopol lässt sich nur verzichten, wenn man eine harmonische, konfliktfreie Gesellschaft unterstellt, in der keine konkurrierenden Interessen bestehen. Dafür reicht meine Fantasie nicht, auch nicht, wenn ich eine Aufhebung des kapitalistischen Klassenantagonismus antizipiere. Eine komplexe Gesellschaft ohne Konflikte ist wahrscheinlich auch kein Traum, sondern ein Albtraum.“
Um auf ein staatlich zentralisiertes Gewaltmonopol zu verzichten, braucht es jedoch keine „harmonische, konfliktfreie Gesellschaft“, sondern in erster Linie dezentrale, und räumliche flexible, basisdemokratischen Entscheidungseinheiten, die Überwindung von (kapitalistisch hervorgerufener) materieller Not und vor allem: eine entwaffnete Bevölkerung.
Konfliktfreie Gemeinschaften kann es tatsächlich nicht geben, weil unterschiedliche Interessen in der Natur des Menschen liegen - die Überwindung der menschlichen Natur ist Utopie. Die gewalttätigen kapitalistischen Verhältnisse sind hingegen ebenso ein Produkt menschlichen Handelns wie der militante Staatsapparat, den das Kapital zur Durchsetzung und Verteidigung seiner Interessen benötigt. Entwaffnung mag für Polizisten, Militärs, Juristen und Politiker, also die Vertreter der dem Kapitalismus angeschlossenen Organe, ein Albtraum sein, für viele andere sind eher diese ein solcher. Eine ökonomisch freie, kooperative und entwaffnete Gesellschaft wird einen Weg finden, Konflikte zu schlichten ohne mit Schusswaffengebrauch drohen zu müssen. Dafür sollte die Fantasie noch reichen. Selbst in Hamburg.

Erschienen in Graswurzelrevolution (GWR) 386 (Februar 2014)

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