Montag, 14. April 2014

Ukraine bankrott

Einer der Gründe für die Wut vieler Ukrainer ist die wirtschaftliche Situation des Landes. Wie in den meisten Staaten des ehemals sozialistischen Ostblocks ist die nachholende Modernisierung grandios gescheitert.

Allein zwischen dem 23. und 25. Februar 2014 wurden rund 30 Milliarden Hryvnia von Ukrainischen Banken abgezogen. Das entspricht 2,3 Milliarden Euro oder 7 Prozent der gesamten Bankeinlagen auf ukrainischen Konten. So etwas nennt man landläufig einen „Bankrun“.
Anfang März reagierten die Notenbanker in dem Land, das unterdessen zum Schauplatz der „größten europäischen Krise seit dem Mauerfall“ geworden war, wie der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier erklärte, mit Einschränkungen im Devisenhandel und Liquiditätshilfen für den heimischen Bankensektor. Der Verfall der Währung konnte so zumindest zwischenzeitlich gestoppt werden, nach einem Einbruch von rund 16 Prozent in 2 Monaten.
Sowohl die Kapitalabflüsse als auch die Währungsturbulenzen setzen das ohnehin bettelarme Land weiter unter Druck.
Bereits vor Ausbruch der Krise waren die Währungsreserven der Ukraine auf rund 18 Milliarden Dollar geschmolzen, bis Ende Februar verschärfte sich der Schwund um weitere 3 Milliarden Dollar. Die Ukraine, die seit 2005 wachsende Außenhandelsdefizite verzeichnet, ist faktisch zahlungsunfähig, allein im dritten Quartal 2013 erzielte das Land ein Defizit im Außenhandel von gut 7 Milliarden Dollar.
Der politische Auslöser der Proteste auf dem Maidan, die Weigerung des Präsidenten Janukowitsch, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, ist vor diesem Hintergrund so unverständlich nicht, zumal die mächtigen ukrainischen Oligarchen an einer einseitig ausgerichteten Außenpolitik kein Interesse haben. Der russische Präsident Putin hatte im Gegensatz zur EU der Ukraine materielle Hilfe auf verschiedenen Ebenen zugesagt und Gaspreise subventioniert. EU und IWF hingegen beharrten auf ihren Forderungen nach Spar- und Marktliberalisierungsprogrammen. Janukowitsch hatte sich unter anderem geweigert, die Energiesubventionen für Privathaushalte, die derzeit etwa 70 Prozent der privaten Energiekosten ausmachen, komplett abzuschaffen, wie vom IWF gefordert.
Anfang März verkündete der russische Gaskonzern Gazprom, ab April die Gaspreise für die Ukraine erhöhen zu wollen. Derzeit zahlt das Land einen Vorzugspreis von 268 US-Dollar für 1000 Kubikmeter Gas, dieser könnte sich ab April auf über 400 Dollar erhöhen. Mit der nächsten Gasrechnung dürfte die ukrainische Bevölkerung also einen Vorgeschmack darauf erhalten, was eine Zusammenarbeit mit der EU bedeutet.
Dabei hat die Ukraine Schätzungen zufolge einen kurzfristigen Finanzierungsbedarf von rund 35 Milliarden Dollar, das zuletzt von der EU zugesagte Hilfspaket von insgesamt 11 Milliarden Euro dürfte bei weitem nicht ausreichen, um das Land nachhaltig vor dem Bankrott zu bewahren. Diese wie weitere in Aussicht gestellte Hilfsgelder wurden aber in einer Erklärung des EU-Präsidenten Barroso wie üblich unter dem Vorbehalt in Aussicht gestellt, dass die Ukraine „Reformen wolle“.
Dabei ist das Land längst auch von den Zuwendungen des Westens abhängig. So steht die Ukraine mit rund 4,5 Milliarden US-Dollar beim IWF in der Kreide, während seit 2008 weitere in Aussicht gestellte IWF-Kredite in einem Gesamtvolumen von rund 32 Milliarden Dollar nach Janukowitschs Reformverweigerung eingefroren wurden. Der US-amerikanische Vertreter im IWF-Exekutivdirektorium, Douglas Rediker forderte, die neue Regierung in Kiew müsse „an das Programm glauben und beweisen, dass sie versteht, was für den Erfolg des Programms nötig ist – indem sie es umsetzt.“
Es ist schon erstaunlich, mit welcher Ignoranz die westlichen Kreditgeber ihre drakonischen Liberalisierungen und Einsparungen einfordern, obwohl gerade die Ukraine aufgrund genau solcher „Reformen“ in den 90er Jahren einen großen Teil ihres wirtschaftlichen Leistungspotenzials einbüßte. Wie in den meisten anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks wurde der ukrainischen Wirtschaft der Privatisierungswahn der Nachwendejahre zum Verhängnis. Die neoliberale Privatisierungswelle sorgte für die Herausbildung einer Wirtschaftsoligarchie und einen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von rekordverdächtigen 60 Prozent bis 1995.
Erst ein Jahrzehnt nach der Loslösung von der Sowjetunion erreichte die Ukraine wieder ein Wirtschaftswachstum, allerdings auf einem erbärmlichen Niveau und in erster Linie aufgrund eines Lohnniveaus, das inzwischen auf Drittweltniveau gefallen war. Laut Daten der Ukrainischen Statistikbehörde betrugen die monatlichen Durchschnittslöhne im Jahr 2000 rund 230 Hryvnia, das waren zu diesem Zeitpunkt umgerechnet knapp 50 Euro. Zwar haben sich Wirtschaft und Löhne seither erholt, allerdings in erster Linie aufgrund kreditfinanzierten Konsums und dank der Subventionierungen aus Russland. Heute gilt in der Ukraine ein monatlicher Mindestlohn von 1218 Hryvnia, umgerechnet rund 95 Euro, die Mindestrente, die ein Großteil der ukrainischen RentnerInnen bezieht, beträgt aktuell umgerechnet knapp 75 Euro monatlich.
Derweil berichtete die russische Tageszeitung Komersant von den Vorhaben der neuen ukrainischen Regierung, um die Anforderungen der westlichen Partner, also vor allem des IWF und der EU zu erfüllen. Demnach sind Budgetkürzungen von bis zu 80 Milliarden Hryvnia, starke Kürzungen in den Bereichen Bildung, Soziales und bei den Renten geplant, ebenso wie eine Mehrwertsteuererhöhung.
Damit wird der Ukraine als Mittel gegen den drohenden Staatsbankrott genau die Medizin verschrieben, die zu der Misere erst geführt hat. Die weitere Hinwendung zum Westen dürfte die Bevölkerung mit verschärfter Armut bezahlen, während eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, die im derzeitigen weltkonjunkturellen Umfeld nur über massive Investitionen in Forschung und Innovationen zu erzielen ist, in immer weitere Ferne rückt. Die ukrainische Volkswirtschaft dürfte damit endgültig jede Eigenständigkeit verlieren und im besten Fall eine weitere „Werkbank des Westens“ werden, wo zu Hungerlöhnen für westliche Märkte die Arbeiten gemacht werden, bei denen sich eine Automatisierung (noch) nicht lohnt.

Erschienen in Graswurzelrevolution (GWR) 388, April 2014

Sonntag, 6. April 2014

Allergrößten Respekt, "Tagesspiegel",

Einen Tag nachdem ein Flugzeug ohne jede Spur verschwunden ist in der Headline zu fragen: »Kann ein Flugzeug ohne jede Spur verschwinden?« – das ist schon fein.

Nach Diktat spurlos verschollen:

Titanic

Erschienen in Titanic-Magazin 04/2014

Liebe Amerikaner,

laut einem Bericht der WAZ glauben 60 Prozent von Euch, »daß Deutschland eine moderne und in die Zukunft orientierte Gesellschaft sei«. Nun ja, wenn man in die Google-Suchzeile »Amerikaner glauben« eingibt, werden als Topergänzungstreffer u.a. »an Geister«, »daß Hitler noch lebt« oder »nicht an Klimawandel« angeboten.

Null Fehler im Bild.

Glückwunsch von

Titanic

Erschienen in Titanic-Magazin 03/2014

Warnsignale aus Fernost

Chinas Wirtschaft gerät ins Straucheln
Die Volkswirtschaft des Reichs der Mitte wird im ersten Quartal 2014 ihr Wachstumsziel von 7,5 Prozent vermutlich nicht erreichen. Die Zeichen mehren sich, dass eine erste Krise bald bevorsteht


Anfang März gab es in China eine Premiere: Erstmals wurde eine Anleihe nicht bedient. Wo in der Vergangenheit bei Zahlungsschwierigkeiten von Privatunternehmen der Staat einsprang, setzten die chinesischen Behörden im Fall des Solarzellenherstellers Chaori Solar eine neue Anweisung der Zentralregierung um, wonach Zahlungsausfälle nur noch dann übernommen werden sollen, wenn die betroffenen Unternehmen »systemrelevant« sind.

Zwar handelt es sich bei der jetzt ausgefallenen Anleihenrückzahlung durch Chaori Solar mit rund 9 Millionen Euro um ein vergleichsweise geringes Volumen. Aber der Solarzellenkonzern ist nicht das einzige Unternehmen, das Chinas Finanzmärkte beunruhigt. Acht von zehn chinesischen Unternehmen mussten 2013 Zahlungsverzögerungen hinnehmen, stellte der Kreditversicherer Coface in einer am Dienstag veröffentlichten Studie fest. Damit ist die Zahlungsmoral in China auf dem niedrigsten Stand seit 2010.

Auch die Probleme im Immobiliensektor der Volksrepublik lassen sich nicht mehr leugnen. Die über Jahre immer stärker gestiegenen Preise dort ließen das Risikobewusstsein insbesondere bei Chinas Schattenbanken sinken, so dass heute viele Unternehmen exorbitante Verschuldungsraten aufweisen. Seit Ende 2013 ist aber zu beobachten, dass die Immobilienpreise erstmals seit Jahren langsamer steigen, was als Warnzeichen für einen sich abkühlenden Immobilienmarkt durchaus ernst zu nehmen ist.

Anfang vergangener Woche berichtete die Nachrichtenagentur Reuters von Zahlungsschwierigkeiten eines großen Immobilienunternehmens mit Sitz in der Küstenstadt Ningbo, das bei Banken und Privatpersonen Verbindlichkeiten in Höhe von insgesamt 407 Millionen Euro angehäuft hat. Da sich die Firmenleitung auch im verbotenen chinesischen Schattenbankensektor bedient hatte, wurden der Firmenchef und sein Sohn verhaftet.

Die aktuellen Schwierigkeiten in China sind dabei nur Symptome eines tiefer liegenden Problems. Im Grunde ist das Wachstum der chinesischen Volkswirtschaft spätestens seit der weltweiten Finanzkrise nicht nachhaltig und zu einem großen Teil kreditgetrieben. Als Reaktion auf den Einbruch der Wirtschaftsleistung weitete die Zentralregierung 2009 die Kreditvergabe aus. Das hatte Folgen. So stieg der Anteil der Gesamtverschuldung am jährlichen Bruttoinlandsprodukt in China von 155 Prozent im Jahr 2008 auf über 240 Prozent Ende 2013, die Bilanzsummen der chinesischen Banken stiegen insgesamt um gigantische 15 Billionen Dollar. Zum Vergleich: Der US-amerikanische Bankensektor erweiterte seine Bilanzen im gleichen Zeitraum »nur« um zwei Billionen Dollar. Hinzu kommt, dass die Geldmengen, die über das Schattenbankensystem in die Wirtschaft fließen, ebenfalls weiter wachsen. Der Anteil dieses sogenannten grauen Marktes an der Finanzierung von Chinas Wirtschaft wird auf bis zu 25 Prozent geschätzt.

Das Kreditvolumen in China wächst deutlich schneller als die Wirtschaftsleistung, was ein zuverlässiges Alarmsignal ist, denn dauerhaft führt dies zu wachsenden Zahlungsschwierigkeiten innerhalb einer Volkswirtschaft. Es war der Ökonom Hyman Minsky, der zeigte, wie eine solche Entwicklung zu einer schweren Krise führt. Nach ihm ist auch der »Minsky-Moment« benannt: der Zeitpunkt, an dem die Kreditgeber vorsichtig werden, die Kreditvergabe eingeschränkt und damit eine Krisendynamik ausgelöst wird, die kaum noch zu stoppen ist. Seit den Zahlungsausfällen der letzten Wochen wird in den einschlägigen Foren der Finanzindustrie eifrig darüber spekuliert, ob der chinesische »Minsky-Moment« bereits gekommen sei.

In den fernöstlichen Chefetagen ist man auf jeden Fall seit längerem schon eher pessimistisch. Der Einkaufsmanagerindex der britischen Großbank HSBC sackte im März auf 48,1 Zähler ab und sank damit zum fünften Mal in Folge. Unterhalb eines Werts von 50 gehen Chinas Manager von einer schrumpfenden Industrie aus.

Erschienen in Neues Deutschland vom 26.3.2014

Bosnischer Aufruhr

Mitten in Europa steht nicht nur Bosnien-Herzegowina vor einem gesellschaftlichen und ökonomischen Scherbenhaufen. Die bosniche Bevölkerung will sich das nicht länger gefallen lassen.

Nach der Schließung mehrerer Industriebretriebe in der ehemaligen bosnischen Wirtschaftsmetropole Tuzla hatte die Bevölkerung genug. Bereits seit Wochen hatte es jeden Mittwoch Demonstrationen gegeben, als in der ersten Februarwoche die Proteste, unterstützt von Studenten der Universität Tuzla, eine neue Qualität gewannen. Am folgenden Donnerstag schlugen die Demonstrationen endgültig in Gewalt um, rund 5000 Demonstranten lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei und versuchten, die Gebäude der Regionalverwaltung einzunehmen.
Die Aufstände griffen schnell auf weitere Städte Bosniens über, auch in Zenica, Mostar und in der Hauptstadt Sarajevo kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Nachdem sich teilweise auch Polizisten mit den Protestierenden solidarisiert hatten, traten unter anderem die Kantonalregierungschefs von Tuzla und Zenica zurück, schließlich verabschiedete sich der Chef der Regionalregierung von Sarajevo, Suad Zeljkovic, mit den Worten: „Ab morgen können all jene, die so gerne plündern, eine glücklichere Zukunft Sarajevos aufbauen“.
Bosnien war nach dem Jugoslwawienkrieg im Zuge des Daytoner Abkommens in zwei Entitäten geteilt, die gemeinsam den Staat Bosnien-Herzegowina bilden. Die beiden Teilrepubliken Srpska (Serbische Republik) und die Föderation von Bosnien-Herzegowina werden von mehreren Regionalregierungen verwaltet.
Westliche Berichterstatter waren sich nach den Krawallen einig darin, dass sich die Proteste in erster Linie gegen die grassierende Korruption, die Selbstbedienungsmentalität der politischen Eliten und einige gescheiterte Privatisierungen richteten. Die FAZ zitierte gar eine Studie des marktradikalen „Populari Instituts“, das von so genannten NGOs wie der „Charles Stewart Mott Foundation“ (benannt nach dem ultraliberalen US-amerikanischen Republikaner Mott) unterstützt wird, oder der Mozaik Foundation, die wiederum von der Weltbank, Microsoft und der „Uni Credit Foundation“ gesponsert wird. Für die FAZ ist dieser Kapitalisten-Think Tank das „beste soziologische Forschungsinstitut Bosniens“ und dieses kommt wenig überraschend zu der grandiosen Erkenntnis, „die Einstellung der jungen Leute“ in Bosnien sei das eigentliche Problem. „Eltern bestärkten ihre Kinder in dem Irrglauben, sie seien „zu wertvoll“, um Arbeiten anzunehmen, die nicht prestigeträchtig sind oder nicht in ihr Bildungsprofil passen“, beschweren sich die Forscher, die offenbar den Verstand verloren haben angesichts einer Jugendarbeitslosigkeit von rund 50 Prozent und Durchschnittslöhnen von monatlich 400 Euro in Bosnien.
Wahrscheinlicher ist, dass die Bevölkerungen der zunehmend verelendeten Staaten des ehemals sozialistischen Ostblocks allmählich bemerken, wie wenig die spätkapitalistische Krisensystematik ihre prekäre Lage zu bessern im Stande ist. Selbstverständlich können weder die Ukraine, noch die Staaten des ehemaligen Jugoslawien, noch Russland, noch der Ostteil der Bundesrepublik die Kosten aufbringen, die erforderlich wären, um die eigenen Volkswirtschaften wettbewerbsfähig zu machen. Trotz immer niedrigerer Lohnniveaus bleiben in vielen Staaten der kapitalistischen Peripherie schlicht die Kapitaströme aus, die nötig wären, um eine nachholende Modernisierung ins Werk zu setzen.
Dass es eine solche überhaupt noch geben kann, ist angesichts weltweit gigantischer Überkapazitäten längst ein ökonomisches Märchen. Sofern man den Berichten von den bosnischen Protesten Glauben schenken darf, haben die Einwohner Bosnien-Herzegowinas im Zuge des Aufstandes den von den politischen Eliten dauernd geschürten nationalistischen Ressentiments eine Absage erteilt. Blieben sie dabei, wäre eine antikapitalistische Krisenanalyse ohne liberal-nationale Sündenbocklogik a la Ukraine möglich.
Eine Exilbosnierin notierte auf ihrer Facebook-Seite: „Ich bin so stolz auf mein Volk.“

Erschienen in Graswurzelrevolution (GWR) 387 (März 2014)

Mittwoch, 26. Februar 2014

Wenn die Nachfrageschwäche chronisch ist

Einseitiges deutsches Wirtschaftsmodell beschert den auf den Inlandskonsum fokussierten Branchen Probleme
Die deutsche Nachfrageschwäche hat sich in letzter Zeit weiter verfestigt. Unternehmen, die von Massenkonsum abhängig sind, geraten in Probleme.

Selbst das Geschäft mit Tütensuppen, Würzmischungen und Fertiggerichten ist nicht mehr krisensicher: Der Lebensmittelhersteller Zamek meldete wegen drohender Zahlungsunfähigkeit am Dienstag Insolvenz an. Der 1932 gegründete Familienbetrieb, der mit rund 520 Beschäftigten in Düsseldorf und Dresden produziert, hatte im Geschäftsjahr 2012/2013 sinkende Umsätze und einen Verlust von über zehn Millionen Euro ausgewiesen. Mehrheitsgesellschafter Bernhard Zamek hatte deshalb bereits im Oktober 2013 »drastische Einsparmaßnahmen« und den Abbau weiterer 85 Stellen angekündigt. Außerdem wollte das Unternehmen einen Teil der Produktion nach Polen verlagern, um Kosten einzusparen.

Seit Jahren zeigen sich die Auswirkungen der Reallohnrückgänge in Deutschland vor allem in einem Einzelhandelssterben. Derzeit kämpfen große Firmen wie Karstadt, der Textilhändler NKD, die Warenhauskette Strauss und der Weltbild-Verlag ums Überleben. Erst vor wenigen Tagen teilte das Modelabel Strenesse mit, in Zahlungsschwierigkeiten geraten zu sein. Mit der Neckermann AG meldete Mitte 2012 sogar ein einstiger Branchenriese Insolvenz an, fast zeitgleich machten die Drogeriekette Schlecker und das Baumarkt-Unternehmen Praktiker dicht. Am Dienstag wurde der Ausverkauf in den Filialen von Max Bahr beendet. Praktiker hatte das operative Geschäft dieser Baumarktkette übernommen, um mit einer Zwei-Marken-Strategie »Schnäppchenjäger und anspruchsvolle Kunden« bedienen zu können. »Wachstum findet, wenn überhaupt, nur noch an den Polen statt«, erklärte der damalige Praktiker-Chef Wolfgang Werner und verwies damit indirekt auf die größer werdenden Einkommensunterschiede. Letztlich riss der Billiganbieter Praktiker die gehobenen Max-Bahr-Geschäfte mit in die Insolvenz.

Während der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, verkündet, er sehe für die Eurozone »einen Aufschwung, der auch zaghaft beim Konsum greift«, zeigte sich im Weihnachtsgeschäft des deutschen Einzelhandels ein gegenteiliges Bild: Die Einzelhandelsumsätze sanken im Dezember 2013 um spürbare 2,4 Prozent zum Vorjahresmonat. Damit verfestigt sich ein Negativtrend: Im Einzelhandel liegen die Umsätze konstant unterhalb der Zahlen von 1994, mit weiter fallender Tendenz.

Das Gastgewerbe ist ebenfalls vom Nachfragerückgang betroffen: Die Umsätze von Gaststätten und Hotels sanken um 3,4 Prozent im Vergleich zum Dezember 2012 und im Gesamtjahr 2013 um 1,1 Prozent.

Auch in anderen konsumabhängigen Branchen werden die sinkenden Masseneinkommen zum Problem. So ist zwischen den Billigfluganbietern ein Preiskampf entflammt, der zuletzt Ryanair tief in die Verlustzone zwang: Der Branchenprimus bot eigenen Angaben zufolge im Oktober und November auf 400 Verbindungen Preise von 14,99 Euro an und verlangte im Jahr 2013 durchschnittlich nur rund 48 Euro pro Flugticket. Dies führte zwar zu steigenden Passagierzahlen, aber auch zu einem Verlust von 35 Millionen Euro im Schlussquartal.

Längst leiden Kleinflughäfen unter dem Rückzug der Billigfluganbieter. 2013 sind die Passagierzahlen in Münster/Osnabrück um 23 Prozent eingebrochen, in Kassel-Calden ist man an vielen Tagen froh, wenn überhaupt ein Flugzeug auf dem aus öffentlichen Mitteln finanzierten 270-Millionen-Airport startet oder landet.

Die vergleichsweise niedrigen Lohnkosten in Deutschland führen zwar zu einer enormen Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Unternehmen, die immer neue Exportrekorde aufstellen. Bei den Arbeitnehmern und damit im Massenkonsum kommt von den Gewinnen aber kaum etwas an. Trotz niedriger Inflationsrate von 1,5 Prozent im Jahr 2013 stiegen die Preise schneller als die Löhne. Laut den Bundesstatistikern liegen die deutschen Löhne preisbereinigt unter dem Niveau von 1992.

Kein Wunder, dass der Binnenkonsum weiter Schwäche zeigt und der Einzelhandel im Gesamtjahr 2013 das schwächste Umsatzwachstum seit dem Rezessionsjahr 2009 verzeichnete. Damit wird das einseitige deutsche Wirtschaftsmodell zunehmend auch ein Problem für das auf den Inlandsmarkt konzentrierte Kapital.

Der Artikel erschien in Neues Deutschland vom 26.2.2014

Sonntag, 23. Februar 2014

Wiederum Du, Studentenzeitschrift »Audimax«

erklärtest in Deiner Dezember-Ausgabe, »warum Geisteswissenschaftler ›akademische Stiefkinder‹ sind und was sie dagegen tun können«. Statt »Wochen und Monate voller wahlloser Bewerbungen« zu vertrödeln und »unterbezahlte Aushilfsjobs« anzunehmen, sollte sich Dir zufolge »der Geisti Zeit nehmen und sich überlegen, was er kann, was er machen und in welcher Branche er das machen möchte«. Aber mal ehrlich, Audimax, gilt das nicht ganz ähnlich auch für Deine Redakteure? Sollte sich der Audimax-Hirni nicht längst auch einmal Gedanken darüber machen, daß er als akademisches Stiefkind karriereberatungstechnisch ziemlich im Glashaus sitzt? Und sich eventuell überlegen, was er kann und in welcher Branche er das machen könnte?

Doch doch, findet schon:
Titanic

Erschienen in Titanic Magazin 02/2014

Donnerstag, 30. Januar 2014

Kurz vor Gnade und Willkür

Die Vorgänge um die Demo zum Erhalt der „Roten Flora“ am 21.12. 2013 in Hamburg verweisen auf die Gefahr eines sich verselbständigenden Gewaltmonopols

In Kambodscha wurden Anfang Januar drei Textilarbeiter nach tagelangen Massenstreiks erschossen, bei denen es um eine Anhebung der Monatslöhne auf 115 Euro gegangen war. Man könne, so ein Militärsprecher laut FAZ, „ihnen nicht gestatten, die Straße zu blockieren“, und da sich die Streikenden mit Stöcken gegen die Sicherheitskräfte zur Wehr gesetzt hatten, wurde geschossen: „Wir haben keine Wahl.“ Via „Hamburger Morgenpost“ hatte wenige Tage zuvor auch die Hamburger Polizei nach den Auseinandersetungen anlässlich des Erhalts des autonomen Zentrums „Rote Flora“ (siehe nebenstehenden Erfahrungsbericht) ausrichten lassen: „Wir schießen nächstes Mal scharf!“ Als Grund für das Festsetzen und Einkesseln des Demozugs nach wenigen Metern und damit den Beginn der Eskalation nannte der polizeiliche Einsatzleiter Peter Born allen Ernstes, die Demo sei zu früh losgelaufen. Später hieß es, Polizisten seien von einer Brücke aus mit Steinen beworfen worden, dann war es plötzlich der Verkehr, der auf der zugelassenen Demoroute noch nicht umgeleitet gewesen sei, weil „noch nie ein Aufzug pünktlich losgegangen ist“.
Auch in Griechenland muss gewarnt werden, wer sich auf die dortige Version der Exekutive verlässt. Deren Personal wählt laut einer Umfrage zu bis zu 25% die Nazi-Partei Chrisi Avgi und man braucht also etwas Glück, wenn man von Neonazis bedroht wird und auf griechische Polizisten stößt. Jeder vierte Beamte wird den Faschisten eher Amtshilfe leisten, als sie an ihrem Tun zu hindern. Auch die Muslimbrüder in Äqypten haben zuletzt so ihre Erfahrungen mit der monopolisierten Staatsgewalt gemacht. Wenn die Interessen der Militärs nicht mehr mit denen der Legislative und/ oder Judikative übereinstimmen, ist es mit der demokratisch legitimierten Verfassung eben perdu. Präsident Mursi wurde kurzerhand verhaftet. So schnell kann’s gehen.
Die Einschätzung, gewaltmonopolisierte Staatlichkeit sei per se ein zivilisatorischer Fortschritt, geht auf den bürgerlichen Staatstheoretiker Thomas Hobbes und seinen Krieg aller gegen alle zurück. Hobbes erklärte bekanntlich den Menschen zu „des Menschen Wolf“. Der menschliche „Naturzustand“ sei nur durch staatliche Gewaltausübung zu zähmen und Hobbes begründet die Notwendigkeit einer rechtsmäßigen Ordnung mit der Notwendigkeit zu schließender und einzuhaltender Verträge und damit, dass dem angeblich barbarischen Naturzustand der Menschen ein Ende zu setzen sei.
Die Mehrheit der Menschen sei bereit, „sich gewissen Anordnungen, welche die bürgerliche Gesellschaft erfordert, zu unterwerfen“, um dadurch „ sich selbst zu erhalten und ein bequemeres Leben zu führen“. Wer die bürgerlichen „gewissen Anordnungen“ moderner Zivilisationen aber für überwindenswerte Ausbeutungs- und Verblödungsverhältnisse hält, kann sich auf etwas gefasst machen: „Gesetze und Verträge können an und für sich den Zustand des Kriegs aller gegen alle nicht aufheben; denn sie bestehen in Worten, und bloße Worte können keine Furcht erregen; daher fördern sie die Sicherheit der Menschen allein und ohne Hilfe der Waffen gar nicht.“ Der Stärkere als Autorität verschwindet also in einer staatlichen Gewaltordnung keineswegs - ganz im Gegenteil: „Mit der Unterwerfung wird der Stärkere ein für alle mal festgeschrieben und dieser Stärkere nimmt für sich auch noch das Recht in Anspruch“, kommentiert der Rechtstheoretiker und Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld, Andreas Fisahn, Hobbes Argumentation.
Die Legitimität von Rechtsordnungen und den damit verbundenen „Zwangsapparaten“ besteht indes laut Max Weber darin, dass individuelle „Chancen“ innerhalb einer solchen „Geltung“ von einklagbaren Rechten jedem Einzelnen zustehen, und zwar unabhängig von „Gnade oder Willkür“ einer personalisierten Herrschaftsinstanz. Diese Bedingung ist aber in letzter Konsequenz vom „guten Willen“ der vermeintlich „legitimen“ und „legitimierten“ Waffeninhaber abhängig. Der gute Wille des Gewaltmonopols wird indes sofort fraglich, wenn die Rechtsordnung nicht (mehr) im Einklang mit den Interessen der bewaffneten Akteure steht und daher ist die Geltung einer Rechtsordnung, deren Durchsetzung von bewaffneten Gruppen abhängt, dauernd prekär und nur einen Schritt von „Gnade oder Willkür“ entfernt. Das zeigt sich am sichtbarsten in großen Teilen der Welt in einer überbordenden Korruption. Aber auch in Hamburg wird unterdessen darüber diskutiert, wer eigentlich die Politik in der Stadt bestimme, der Senat oder die Polizei?
Die Legitimation physischer Zwangsapparate wird vor diesem Hintergrund selbst prekär und Demokratie bleibt dem Staat bis dahin sowieso äußerlich, die Staatlichkeit an sich ist nicht demokratisch konstituiert. Sie „erhält nur die Funktion, staatliche Herrschaft zu legitimieren.“(Fisahn) Die eigentliche Herrschaftsinstanz, nämlich die abstrakte Staatlichkeit, ist im liberalen Diskurs von Hobbes bis Hegel nicht von einem demokratischen Verfahren abhängig. Sie wird samt Gewaltmonopol ontologisiert und erhält durch demokratische Verfahren bloß noch eine Bonuslegitimation nach dem Motto: Seid ihr dafür oder dafür?
Die abstrakte Staatlichkeit tritt dem Einzelnen gleichsam als Naturgewalt entgegen und zeigt damit strukturelle Gemeinsamkeiten mit der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation. Ein bewaffnetes Gewaltmonopol ist eben nur da vonnöten, wo Menschen unterdrückt oder zu domestiziertem Arbeitsvieh degradiert werden sollen, nur da, wo es eines „letzten Arguments aller bedrohten politischen Macht“ (Bakunin) bedarf.
Dabei stellte Weber auch fest, dass es in jeder Gesellschaftsformation andere, mindestens genauso wirksame, aber unbewaffnete Korrektive gibt. „Die Androhung eines Ausschlusses aus einem Verband, eines Boykotts oder ähnlicher Mittel, und ebenso das Inaussichtstellen diesseitiger magisch bedingter Vorteile oder Unannehmlichkeiten oder jenseitiger Belohnungen oder Strafen für den Fall eines bestimmten Verhaltens wirken unter gegebenen Kulturbedingungen häufig - für ziemlich große Gebiete: regelmäßig - sehr viel sicherer als der in seinen Funktionen nicht immer berechenbare politische Zwangsapparat.“
Eine gewaltfreie Gesellschaft ist aber selbst für Kritiker wie Fisahn nicht mehr vorstellbar: „Auf Recht und die Befugnis zu zwingen, d.h. auch auf das Gewaltmonopol lässt sich nur verzichten, wenn man eine harmonische, konfliktfreie Gesellschaft unterstellt, in der keine konkurrierenden Interessen bestehen. Dafür reicht meine Fantasie nicht, auch nicht, wenn ich eine Aufhebung des kapitalistischen Klassenantagonismus antizipiere. Eine komplexe Gesellschaft ohne Konflikte ist wahrscheinlich auch kein Traum, sondern ein Albtraum.“
Um auf ein staatlich zentralisiertes Gewaltmonopol zu verzichten, braucht es jedoch keine „harmonische, konfliktfreie Gesellschaft“, sondern in erster Linie dezentrale, und räumliche flexible, basisdemokratischen Entscheidungseinheiten, die Überwindung von (kapitalistisch hervorgerufener) materieller Not und vor allem: eine entwaffnete Bevölkerung.
Konfliktfreie Gemeinschaften kann es tatsächlich nicht geben, weil unterschiedliche Interessen in der Natur des Menschen liegen - die Überwindung der menschlichen Natur ist Utopie. Die gewalttätigen kapitalistischen Verhältnisse sind hingegen ebenso ein Produkt menschlichen Handelns wie der militante Staatsapparat, den das Kapital zur Durchsetzung und Verteidigung seiner Interessen benötigt. Entwaffnung mag für Polizisten, Militärs, Juristen und Politiker, also die Vertreter der dem Kapitalismus angeschlossenen Organe, ein Albtraum sein, für viele andere sind eher diese ein solcher. Eine ökonomisch freie, kooperative und entwaffnete Gesellschaft wird einen Weg finden, Konflikte zu schlichten ohne mit Schusswaffengebrauch drohen zu müssen. Dafür sollte die Fantasie noch reichen. Selbst in Hamburg.

Erschienen in Graswurzelrevolution (GWR) 386 (Februar 2014)

Die Finanzkrise meldet sich zurück

Türkische und südafrikanische Zentralbank heben die Leitzinsen an, um den Währungskursverfall zu stoppen
Mit einer spektakulären Leitzinserhöhung stemmt sich die türkische Zentralbank gegen den Absturz der Währung. Und Südafrika zog nach. Die Börsen reagieren erleichtert, doch die Unsicherheit hält an.


Noch Anfang vergangener Woche war die Börsenparty in vollem Gange. Die wichtigsten Aktienindizes bewegten sich von Bestmarke zu Bestmarke. Doch damit ist es erst einmal vorbei, allein der DAX verlo...

Der ganze Artikel ist nur kostenpflichtig auf der Seite des Neuen Deutschland einsehbar.

Montag, 6. Januar 2014

Du, Sexarbeiterin Johanna Weber,

erklärtest im Spiegel-Interview, warum viele Deiner Kolleginnen sich nicht beim Finanzamt anmelden: »Ich kann verstehen, daß sich viele schwer damit tun. Wenn man Kinder hat, will man nicht, daß die auf dem Schulhof ›Hurensohn‹ genannt werden.« Nun, Weber, wenn wir die hiesigen Jugendlichen in öffentlichen Verkehrsmitteln belauschen, nennt so ziemlich jeder jeden »Hurensohn«, und um das Argument gleich zu entkräften: Nein, selbst hier in Frankfurt kann das unmöglich mit der tatsächlichen Profession der Erzeuger zusammenhängen. Was uns aber interessiert: Wer genau beim Finanzamt verrät denn immer der ganzen Schule, was die Eltern beruflich machen?

Das wüßten nämlich gerne mal die Sexaushilfen von

Titanic

Erschienen in Titanic-Magazin 1/2014

Mittwoch, 1. Januar 2014

Wer regiert das Geld?

Zum Tode von Margrit Kennedy

Wer die energische kleine Frau live erlebt hat, weiß, dass Margrit Kennedy es mit ihrem Engagement ernst meinte. Seit Anfang der 1980er Jahre kämpfte sie gegen die Auswüchse des Zinssystems, das sie als Grund des kapitalistischen Übels ausgemacht hatte. »Ich glaube, dass es in unserem Bildungssystem eine kleine Bildungslücke gibt«, erklärte sie 2011 in der NDR-Talkshow und verblüffte die anwesenden Prominenten mit der Frage, ob sie sich eher wöchentlich 1000 Euro auszahlen lassen würde oder einen Cent als Einstiegslohn, der sich von Woche zu Woche verdopple. 22,5 Billionen Euro verdiene man mit der zweiten Variante in einem Jahr.

Studiert hatte Kennedy Architektur. Sie arbeitete in den 1970ern u.a. für OECD und UNESCO in Nord- und Südamerika, promovierte in Pittsburgh und lehrte später an der Uni Kassel. Anlässlich der Internationalen Bauausstellung in Berlin 1977-87 leitete sie den Forschungsbereich Ökologie, Energie und Frauenprojekte und stieß dabei auf Finanzierungsprobleme ökologischer Bauvorhaben, was sie dazu brachte, den Finanzierungsvorbehalt vieler Betriebe in Sachen Umweltschutz zu hinterfragen. Kennedy machte sich daran, den Wachstumszwang der kapitalistischen Wirtschaft auf Fehler im Geldsystem hin zu überprüfen und veröffentlichte 1987 das Buch »Geld ohne Zinsen und Inflation«. Darin analysierte sie die Möglichkeiten alternativer Währungen und Geldsysteme.

Mit den jüngsten Finanzkrisen interessierte sich eine breitere Öffentlichkeit für ihre Thesen. Als die Occupy-Bewegung in Deutschland aktiv wurde, beriet Kennedy die Aktivisten. Sie gründete die Gruppe »Occupy Money« mit und veröffentlichte ein gleichnamiges Buch. »Geld regiert die Welt! Das ist heute offensichtlich. Doch wer regiert das Geld? Die weltweite Wirtschaftskrise belegt, dass diese Frage für die meisten Menschen zur Überlebensfrage geworden ist«, heißt es im Vorwort.

Kennedy war überzeugt, dass der krisenhafte Kapitalismus zu »heilen« sei, übersah aber, dass die Wachstumsnotwendigkeit nicht monokausal erklärt werden kann. Ihr Engagement für eine bessere Welt war ehrlich, ihre Argumentation aber konnte einer Überprüfung oft nicht standhalten. Weder lässt sich die durch Zins und Zinseszins hervorgerufene exponentielle Vervielfachung von Schulden empirisch nachweisen, noch ist der Zusammenhang logisch haltbar.

So enthält das politische Engagement Kennedys eine gewisse Tragik, da sie ihre einmal gewonnene Erkenntnis von den Auswirkungen des falschen Geldsystems nicht weiterentwickeln konnte und damit noch 2011 Regionalwährungen und Zeitbanken propagierte. Kennedy wollte die kapitalistischen Grundkategorien nicht überwinden, sondern so einhegen, dass sie den Menschen dienen. Sie war eine streitbare und energische Kritikerin der Verhältnisse. Am vergangenen Sonnabend starb sie wenige Monate nach einer Krebsdiagnose im Ökodorf »Lebensgarten Steyerberg« - einem Projekt, für das sie sich bis zu ihrem Tod engagiert hatte.

Erschienen in Neues Deutschland vom 31.12. 2013

Blockupy die Dritte

Bei der Blockupy-Aktionskonferenz in Frankfurt wurde antikapitalistischer Protest für das kommende Jahr geplant. Im Mittelpunkt stand die Zusammenführung lokal und thematisch divergierender Protestformen.

Angesichts der sich zuspitzenden Krise in Europa war das auch internationale Interesse an der Vorbereitungsveranstaltung zur dritten Auflage der Blockupy-Proteste nicht verwunderlich und auch die immer wieder geäußerte Hoffnung vieler Aktivisten, dass die für 2014 geplanten Aktionen „großartig“ würden, ist nicht so weit hergeholt. Knapp 500 Aktivisten waren aus halb Europa nach Frankfurt gekommen.
Deutlichster Ausdruck der Internationalität der Blockupy-Bewegung ist die Tatsache, dass auf den Plenen und zum Teil auch in den Workshops am zweiten und dritten Tag der Aktionskonferenz häufig auf Englisch diskutiert wird. Zwei Dolmetscher übersetzen die wenigen Beiträge auf Deutsch ebenfalls ins Englische, es wird viel Spanisch, Italienisch, Griechisch aber auch Bulgarisch und Französisch gesprochen vor und im altehrwürdigen Frankfurter Studierendenhaus auf dem alten Campus Bockenheim, demVeranstaltungsort der Blockupy-Aktionskonferenz.
Diese Internationalität, oder auch Transnationalität oder Antinationalität ist allgegenwärtig und in vielen Stellungenahmen der beteiligten Gruppen nach der Konferenz ist sogar von einer Mobilisierung „in Europa und darüber hinaus“ die Rede. Es ist neben vielen positiven Entwicklungen während der drei Tage im November 2013, auf denen laut Auskunft der Veranstalter Aktivisten aus über 15 Ländern anwesend waren, die erfreulichste.
Wer die Polemiken innerhalb der deutschen aber auch der weltweiten Linken kennt, weiß, wie die unterschiedlichen Ansichten oft unüberwindbare Hindernisse darstellen. Umso erstaunlicher, dass Blockupy offenbar eine durchaus integrative Wirkung hat. Das mag an der schieren Größe der Veranstaltungen in den Jahren 2012 und 2013 mit mehreren zehntausend Teilnehmern liegen. Da will dann jeder, der den Glauben (welchen auch immer) an eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung noch nicht ganz aufgegeben hat, natürlich dabei sein. Und so sind, wie auch im vergangenen Jahr Anarchisten, Antifas jeder Schattierung, Freunde „solidarischer Ökonomien“, selbst ernannte revolutionäre Gruppen, Attac-Globalisierungskritiker, Neomarxisten aller Couleur, Gewerkschafter, Occupy-Aktivisten und interventionistische Linke anwesend. Streit gab es indes kaum.
Stattdessen diskuterte man konzentriert und solidarisch in den Workshops die Möglichkeiten besserer Verknüpfung von Großevents wie Blockupy mit lokalen und regionalen Kämpfen. Es wurden neben Fragen der kapitalistischen Krisenzuspitzung auch deren immer dramatischeren Folgen, wie weitere Verarmung großer Bevölkerungsschichten, zunehmende Arbeitslosigkeit und immer größere Einkommens- und Vermögensungleichheiten thematisiert.
Da es kaum eine Weltregion mehr gibt, in der die (nachholende) Modernisierung nicht genau diese Folgen zeitigt, ist es nur folgerichtig, dass der die ganze Veranstaltung dominierende Grundkonsens die Zusammenführung und Globalisierung verschiedener Kämpfe und Proteste war.
In weiteren Workshops wurden die konkreten Krisenfolgen erörtert, von „Perspektiven für Kämpfe von MigrantInnen und Refugees“ war ebenso die Rede wie von „Kämpfen gegen schmutzige Energie, Großprojekte und Ökodesaster“. Was das Kapital eben so alles anrichtet.

Bei aller Solidarität in den Debatten und in der gemeinsamen Planung des Blockupy-Events sind die inhaltlichen Differenzen natürlich keinesfalls überwunden und die Tatsache, dass in der Pressemitteilung im Anschluss an die Konferenz wieder die üblichen Dämlichkeiten politikberatender Pseudokritik von so genannten „Blockupy-Sprechern“ heruntergebetet werden, dürfte auch einem großen Teil der Konferenzteilnehmern kaum gefallen. Da ist von einem „Kampf für Demokratie, Solidarität und Commons“ die Rede, die sprachkrampfigen #-Zeichen vor jedem Begriff dürfen selbstverständlich nicht fehlen, man will ja trotz aller Kritik irgendwie postmodern cool „rüberkommen“.
Darin kommt bei allem guten Willen in erster Linie die Begriffslosigkeit der Protestbewegungen im Angesicht der nicht enden wollenden Krise zum Ausdruck. Man hat irgendwie davon gehört, dass sich der Kapitalismus in einer historisch einmaligen Phase offen zutage tretender Selbstwidersprüchlichkeit befindet, man sieht auch die Folgen, einige Teilnehmer aus Südeuropa vor der eigenen Haustür oder gar am eigenen Leib, einen Reim darauf kann (und will) man sich aber (lieber) nicht machen. Und so hört man wiederholt, die Demokratie müsse verteidigt und vom Kapitalismus befreit werden. Demokratie ist aber eben nichts als ein Verfahren gemeinsamer Entscheidungsfindung, im Grunde nichts als eine spezifische Form von Sozialtechnik, während unter Kapitalismus auch auf der Konferenz offenbar jeder etwas anderes versteht. Damit auf der Straße dann auch jeder „Anticapitalista“ mitgrölen kann. Ein Teilnehmer hält, wie er sagt, „die Auswüchse der Finanzwirtschaft“ für den Kapitalismus. So gesehen wäre aber auch Wolfgang Schäuble Antikapitalist. Eine begriffliche Schärfung, die dazu führen müsste, die bürgerliche Demokratie und Marktwirtschaft selbst ins Visier der Kritik zu nehmen, fällt auch den Blockupy-Aktiven schwer, man würde wohl einen großen Teil der Anwesenden mit ernst gemeinter radikaler Kritik überfordern.

Wie gut, dass es am Sonntag dann auch vor allem um Organisatorisches geht. Insbesondere da Blockupy 2014 als Gegenveranstaltung zur Eröffnung des neuen EZB-Towers in Frankfurt geplant ist und bisher der Termin der Eröffnungsveranstaltung nicht feststeht, stellt dies tatsächlich eine außergewöhnliches Herausforderung dar. So will man für einen „Tag X“ mobilisieren, eine Vorgehensweise, die nicht unbekannt ist: Ähnliches war auch bei Protesten gegen Castor-Transporte notwendig.
Fest steht, dass die EZB-Eröffnung und damit auch Blockupy erst im Herbst kommenden Jahres stattfinden werden, weshalb man sich zusätzlich auf vorbereitende Werbemaßnahmen im Mai einigte. Diese sollen dezentral stattfinden und helfen, die örtlich und thematisch unterschiedlichen Kämpfe und Proteste insofern zu harmonisieren, dass man dabei einerseits den krisenhaften Gesamtzusammenhang herstellen und andererseits für das Protestevent im Herbst mobilisieren kann.
Die Planungen dafür laufen ab sofort auf Hochtouren, für den Januar wurde ein weiteres Treffen vereinbart.

Die Stimmung während der drei Tage im herbstlichen Frankfurt war jedenfalls bestens, die Diskussionen solidarisch und sachlich und es wehte ein Hauch von Aufbruchsstimmung durch das Frankfurter Studihaus, das von 68er-Bewegten bis Anti-Studiengebührendemos schon so manche Revolte mitgemacht hat. Die teils überschwänglichen Redebeiträge in den abendlichen Plenen zeigten, dass es tatsächlich so etwas wie ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Linken gibt und dass Zusammenkünfte wie die Blockupy-Konferenz äußerst motivierend für die Beteiligten sind. „Ich war auch in einem Workshop. Es war eine sehr interessant Diskussion mit verschiedenen, auch kontroversen Standpunkten. Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Leute von so weit her nach Frankfurt kommen würden und bin selbst schon ein bißchen euphorisch. Es ist eine sehr angenehme Atmosphäre, ich glaub, das wird gut“, freute sich Anousha von Occupy Frankfurt und brachte damit auf den Punkt, was man auf den Gängen immer wieder hörte: Schon das Gefühl, nicht allein oder marginalisiert zu sein, lohnt die Anstrengung.
Für zusätzliches Amüsement sorgten im Übrigen die Frankfurter Polizei und der AStA der Uni, der die Räumlichkeiten am Bockenheimer Campus zur Verfügung stellte. Während erstere den anwesenden Gruppen eine E-Mail-Adresse anbot, an die man sich richten könne, wenn man mit der Polizei zusammenarbeiten wolle, machte sich zweiterer Sorgen um die Kleiderordnung und bat die Teilnehmer darum, ihre Palästinensertücher in die Taschen zu stecken, sofern mitgebracht. Außerdem wurden Flyer mit dem Titel „Coole Kids tragen keine Pali-Tücher“ ausgelegt, in denen dazu geraten wird, sich doch bei „H&M“ oder „C&A“ mit neuen Schals einzudecken.

Erschienen in Graswurzelrevolution (GWR) 384

Sonntag, 29. Dezember 2013

Hüja, Professor Matthias Gauly!

Sie leiten laut FAZ an der Göttinger Universität den Studiengang »Pferdewissenschaften« und erklärten anläßlich eines Artikels, in dem es unter anderem um Pferdebesitzer geht, die ihren Kindern eine Reitsportkarriere ermöglichen wollen und sich dabei finanziell übernehmen: »Man kann nur sportlich erfolgreich sein, wenn man ein Pferd zur Verfügung hat.«

Und in der Pferdewissenschaft kann man nur erfolgreich sein, wenn man mindestens Gauly heißt?
Dachten wir uns!

Ihre Black Beauties von

Titanic

Erschienen in Titanic-Magazin 12/2013
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