Doch nicht alternativlos?

Die politische Konsequenzen der latenten Krise des kapitalistischen Weltsystems muss in der Südperipherie Europas die Bevölkerung ausbaden. Nun erreicht der Widerstand die Parlamente, die europäischen Linksparteien werden aber an den kapitalistischen Zwängen kaum etwas ändern können.
Erster Teil einer Betrachtung der realpolitischen Auswirkungen der latenten Krise des Kapitalismus.


Nachdem die Volkswirtschaften in beinahe allen Ländern der Eurozone die Außenhandelsüberschüsse des Krisenprofiteurs Deutschland sowie die weltweite Überkapazitätskrise mit einer historisch einmaligen Vernichtung von Kapital und einer immensen Staatsverschuldung bezahlen mussten, sind die Leidtragenden in erster Linie die von Arbeitslohn Abhängigen. Mit einem groß angelegten Einsatz von Politik und vor allem der von EZB-Präsident Draghi abgegebenen Garantie für die Staatsanleihen aller Euro-Mitgliedsländer konnten zwar Staats- und Bankenbankrotte abgewendet werden, allerdings wurden die Staaten und deren Bankensektor nur unter der Bedingung „gerettet“, dass sie den Merkelschen wirtschaftspolitischen Kurs durchzusetzen haben, der angeblich zu Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum führt. Bei der Durchsetzung der Austeritätspolitik war es um nicht weniger gegangen als den Fortbestand kapitalistischen Wirtschaftens überhaupt, innerhalb der kapitalistischen Kategorien von Ware, Geld, Wert und Konkurrenz waren mindestens die Rettungsmaßnahmen ja tatsächlich alternativlos, ohne sie wären mindestens Griechenland, Spanien und Portugal, wahrscheinlich auch Italien längst zahlungsunfähig und somit unregierbar. Selbst ohne Euro, wenn also die genannten Länder ihre Währungen hätten abwerten und somit ihre Produkte auf dem Weltmarkt verbilligen können, hätte die Krise diese Staaten in eine jahrelange tiefe wirtschaftliche Depression gestürzt, aus der sie bei den nach wie vor bestehenden und sich aufbauenden Überkapazitäten sowie dauernd steigenden Vorauskosten für wettbewerbsfähige Produktion wohl kaum überhaupt herausgekommen wären.
Man kann es gar nicht oft genug sagen: Unter kapitalistischen Bedingungen wird eine nachholende Modernisierung von ganzen Volkswirtschaften immer schwieriger. Das kapitalistische Auf und Ab ist gerade keine Wiederkehr des Gleichen, sondern vollzieht sich in jeder Akkumulationsrunde zwar nach den gleichen Bedingungen, aber auf einer stets höheren Stufe der Produktivität. Und die Länder der Südperipherie haben dabei den Anschluss, wie ein großer Teil der Welt, verloren.
Die Lohnabhängigen in den genannten Staaten bekommen diese Entwicklung in Form von Arbeitslosigkeit, Prekariat und Armut zu spüren.
Politisch haben die Verschlechterung der materiellen Lebensgrundlagen in der Südperipherie zwar zu einigen auch handfesten Auseinandersetzungen geführt, jedoch nicht zu einer innerhalb des demokratischen Systems sich vollziehenden Suche nach Alternativen. Zuletzt haben sich aber in fast allen von der Krise besonders betroffenen Ländern die Parteienlandschaften verändert, mit einer zunehmenden Dynamik. So etwa in Frankreich mit dem Aufkommen des rechtsradikalen Front National, aber auch in Spanien mit der neuen Partei Podemos („Wir können“) und in Griechenland mit der Partei Syriza. Gemeinsam haben die beiden letztgenannten, dass sie dezidiert linke, kapitalismuskritische Positionen vertreten und mit einer charismatischen Persönlichkeit an der Spitze zu Massenbewegungen geworden sind und bei den nächsten landesweiten Wahlen in die Regierungsverantwortung gewählt werden könnten.
Im Gegensatz zu Syriza, das eine Art Partei gewordene Sammlungsbewegung bestehender linker Gruppen, Parteien und Initiativen ist und bereits seit 1992 besteht, könnte man Podemos als „linke AfD Spaniens“ bezeichnen, da der Werdegang der Partei einige Ähnlichkeiten mit den deutschen Recchtspopulisten aufweist, inhaltlich hingegen vertreten die Wirtschafts- und Politikprofessoren um den Politologen Pablo Iglesias Turrion eher einen Kurs, der der deutschen Linkspartei ähnelt. Und: Podemos ist ungleich erfolgreicher als die AfD, hat sie doch in den vergangenen 11 Monaten, also seit ihrer Gründung im Januar 2014 eine atemberaubende Entwicklung hingelegt, bei den Europawahlen auf Anhieb 8 Prozent geholt und ist in den jüngsten Umfragen (ähnlich der deutschen Sonntagsfrage) mit knapp 28 Prozent stärkste Partei Spaniens. «Podemos hat ein in der spanischen Politik nie dagewesenes Beben ausgelöst», kommentierte die größte spanische Tageszeitung El Pais und dürfte damit kaum untertreiben. Denn ähnlich dem CDU-SPD-System in Deutschland wechselte die Regierungsverantwortung seit 1983 zwischen der konservativen Partido Popular (PP) und der sozialdemokratischen Partei PSOE. Die letzte Parlamentswahl gewann die PP von Ministerpräsident Rajoy mit knapp 45 Prozent. Die Partei hat innerhalb von ziemlich exakt 3 Jahren über die Hälfte an Zustimmung eingebüßt und lag zuletzt bei noch 20 Prozent.
Der 36jährige Iglesias indes ist bereits seit längerem gern gesehener Gast in den spanischen Polittalkshows Spaniens und politischer und intellektueller Tausendsassa. Bereits mit 16 Jahren war er im kommunistischen Jugendverband aktiv, in seiner Doktorarbeit verglich er Formen des Ungehorsams in spanischen und italienischen Bewegungen und wurde 2008 Professor für Politikwissenschaften an der Universidad Complutense in Madrid. Daneben besitzt er einen akademischen Grad in Jura sowie einen Masterabschluss in Humanwissenschaften (Schwerpunkt Kulturwissenschaften) sowie einen Master of Arts in Communication, mit Schwerpunkt Philosophie, Film und Psychoanalyse.
Mitte November wurde Iglesias zum Parteichef von Podemos gewählt – in einer Online-Abstimmung, an der alle spanischen Bürger teilnehmen konnten.

Erschienen in Graswurzelrevolution (GWR) 394, Dezember 2014
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