Ein gekaufter Boom

Die Türkei galt über mehr als ein Jahrzehnt als eines der erfolgreichsten Schwellenländer. Der große Aufschwung scheint aber vorbei – was bleibt, ist ein Schuldenberg.

Im Sommer 2011 war die Welt in der Türkei noch in Ordnung. Regierungschef Erdogan erschien als unangefochtener Lenker hinter dem wirtschaftlichen Erfolg des Landes und gab den westeuropäischen kapitalistischen Zentren Ratschläge. „Die Finanzkrise hat gezeigt, dass Europa mehr Dynamik und Veränderung benötigt: Europas Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen sind komatös. Die europäischen Volkswirtschaften stehen still“, kommentierte er damals die Probleme der anderen im US-Magazin „newsweek“. Der „Focus“ beschrieb die Türkei als „kräftigen jungen Mann, der nun gewissermaßen über die EU-Grenze die Krankengeschichten der Älteren verfolgt.“
Mit der Herrlichkeit der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte am Bospurus ist es keine 3 Jahre später erst einmal vorbei. Erdogan selbst ist schwer angeschlagen, die türkische Notenbank sah sich Ende Januar gar zu einer Notoperation gezwungen und erhöhte den Leitzins gleich um 5,5 Prozent, von 4,5 auf 10 Prozent. Hintergrund war eine starke Abwertung der türkischen Lira und eine Inflationsrate von über 7 Prozent im Januar 2014.
Dass die türkische Währung Anfang 2014 unter Druck geriet, hatte mehrere Ursachen und zeigt deutlich, wie abhängig die türkische Volkswirtschaft von Kapitalzuflüssen ist. Die Aussicht auf steigende Zinsen in den kapitalistischen Zentren und vor allem den USA ließ nach den Ankündigungen der US-Notenbank Fed, die Liquiditätsspritzen für die US-Wirtschaft zurückfahren zu wollen, die Währungen verschiedener Schwellenländer abrutschen, weil Anleger ihr Kapital massenhaft abzogen, um es in die heimischen Märkte umzuschichten. Mit den politischen Turbulenzen, den Korruptionsskandalen und den Protesten in Istanbul stieg das Risiko für Türkei-Anlagen zusätzlich – Investoren scheuen politische Instabilität. Ein weiteres spätkapitalistisches Wirtschaftswunder war entzaubert.
Im Grunde krankt die nachholende kapitalistische Entwicklung in der Türkei ebenso wie in fast allen anderen Staaten der kapitalistischen Peripherie an der Unmöglichkeit, die eigene Wirtschaft nachhaltig wettbewerbsfähig zu machen. Der Rückstand zu den entwickelten Ökonomien ist hinsichtlich der zu leistenden Kosten, die ein Land wie die Türkei aufbringen müsste, um das Produktivitätsniveau etwa Deutschlands zu erreichen, so unvorstellbar groß, dass eine Annäherung praktisch unmöglich ist. So wurden laut OECD-Studie in der Türkei im Jahre 2010 knapp über 25 Dollar Inlandsprodukt pro Arbeitsstunde generiert, in Deutschland waren es rund 52 Dollar. Selbst nach knapp einem Jahrzehnt mit Wachstumsraten von teilweise um die 10 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes ist die türkische Wirtschaft in Punkto Wettbewerbsfähigkeit weit davon entfernt, den entwickelten kapitalistischen Zentren auch nur das Wasser zu reichen. In den Jahren 2012 und 2013 normalisierten sich die Wachstumsraten schließlich auf rund 3 Prozent, was die Probleme der türkischen Wirtschaft endgültig zu Tage treten ließ.
Diese bestehen in erster Linie in einer enormen privaten Verschuldung und einem großen Außenhandelsdefizit. Das ausländische Kapital floss in den Boomjahren vor allem in den Immobiliensektor, die Textilindustrie und in Konsumentenkredite.
Die Zuwachsraten beim BIP verdankte die türkische Wirtschaft, ganz im Gegenteil etwa zu Deutschland, vor allem einer steigenden Binnennachfrage, die dauerhaft stärker stieg als die Exporte. In den vergangenen 10 Jahren hat sich dabei zwar das Durchschnittseinkommen in der Türkei verdoppelt, die Schulden der privaten Haushalte haben sich im gleichen Zeitraum aber verachtzehnfacht. Wie die Oppositionspartei CHP mitteilte, stieg der Anteil der Privatverschuldung am verfügbaren Einkommen von 5,5 Prozent im Jahr 2003 auf über 50 Prozent im Jahr 2013. Die zu einem großen Teil kreditfinanzierten Nachfragesteigerungen bei gleichzeitig mangelnder Wettbewerbsfähigkeit führen unvermeidlich zu Außenhandelsdefiziten. Mittlerweile verzeichnet die Türkei das sechstgrößte Handelsbilanzdefizit der Welt, allein im Dezember 2013 fiel ein Minus von 8,3 Milliarden US-Dollar im Außenhandel an und die US-Notenbank Fed stufte die Türkei im Februar 2014 aufgrund der Defizitproblematik als krisenanfälligstes Schwellenland ein. Indes geraten auch die türkischen Unternehmer zunehmend unter Schuldendruck. Der Niedergang der Türkischen Lira verteuert insbesondere die Einfuhr von Erdöl und Erdgas; seit 2008 stieg die Verschuldung der Unternehmen von 65 auf 170 Milliarden Dollar.
Von all dem auf Pump generierten Wachstum konnten große Teile der Bevölkerung in der Türkei kaum profitieren. Zwar hat sich das pro Kopf - Einkommen seit 2003 verfünffacht, allerdings landeten die Gewinne nur bei einer kleinen unternehmerischen Elite. Während das gesamte Durchschnittseinkommen in der Türkei 2012 bei knapp 10.000 Euro jährlich lag, verdienen die unteren 50 Prozent der Einkommensbezieher im Durchschnitt gerade einmal rund 4000 Euro im Jahr. Rund 12 Millionen Türken müssen mit einem Monatseinkommen von ca. 125 Euro auskommen. Besonders krass ist in der Türkei der Unterschied zwischen den Metropolregionen vor allem im Westen der Türkei und dem armen Osten, was zu einer regelrechten Landflucht geführt hat: Allein in den Jahren 2000 bis 2008 siedelten 5 Millionen Landbewohner in die Städte um.
Wie in vielen Schwellenländern geht die neoliberale Rechnung, wonach ein auf Schulden und Kredit basierender Wirtschaftsboom irgendwie schon bei den Massen ankomme, unter den spätkapitalistischen Bedingungen auch in der Türkei nicht mehr auf. Stattdessen verharrt ein Großteil der überschuldeten Bevölkerung in Armut, während die türkische Volkswirtschaft am Tropf internationaler Kapitalströme hängt. Der künstlich erzeugte Aufschwung fällt der Erdogan-Regierung gerade auf die Füße.

Erschienen in Graswurzelrevolution (GWR) 389
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