Mittwoch, 28. Mai 2014

Eine bodenlose Unverschämtheit

Während sich das Blockupy-Bündnis den anstehenden Protesten widmet, arbeitet die Justiz die Vorfälle rund um den Polizeikessel beim letzten Protestevent auf. Dabei kommt es zu erstaunlichen Einsichten.

Bereits im Juni vergangenen Jahres war ein Verfahren vor dem Frankfurter Amtsgericht gegen den Blockupy-Aktivisten Jan aus Düsseldorf nach nur zehn Minuten eingestellt worden. Dem 28jährigen wurde Widerstand gegen eine Festnahme vorgeworfen, er habe einen Beamten geschlagen. Der Richter hatte bald genug und beendete die Farce mit Zustimmung des Staatsanwaltes und dem gelangweilten Kommentar, der angeblich geschlagene Beamte habe seinen Dienst ja problemlos fortsetzen können.
Die Stimmung im Gerichtssaal des Frankfurter Amtsgerichts war auch Anfang April 2014 bestens, als ein weiterer Aktivist sich für seine Straftaten im Zuge der Blockupy-Proteste Anfang Juni 2013 verantworten musste. Dem 53jährigen Hagen K. wird zur Last gelegt, er habe bewaffnet an der Demonstration teilgenommen, wobei seine Bewaffnung laut Staatsanwaltschaft im Tragen einer mit Hartplastik verstärkten Baseballkappe, zweier Unterarmschützer aus Plastik sowie dem Mitführen von Arbeitshandschuhen bestanden haben soll. Ungewöhnlich, der Sache aber nicht unangemessen, mokierte sich der Angeklagte in seiner Einlassung, der gegen ihn erhobene Strafbefehl sei eine „bodenlose Unverschämtheit“, was die Richterin offenbar überzeugte, schließlich schlug sie bald eine Einstellung des Verfahrens vor. Oberstaatsanwalt Olaf König hingegen besteht auf seiner Anklage und fordert mindestens eine symbolische Geldstrafe, die der Angeklagte, so der Staatsanwalt, ja eventuell an die Polizeigewerkschaft entrichten könnte. Spätestens jetzt erreichte die Stimmung im mit Blockupy-Aktivisten gut gefüllten Gerichtssaal ihren Siedepunkt und das ehrwürdige Amtsgericht erinnert eher an die Comedy-Bühne im nahe gelegenen Stalburg Theater. Die Frankfurter Rundschau kommentierte treffend: „Am Ende wirkt es fast so, als wäre Oberstaatsanwalt Olaf König der strittige Strafbefehl selbst ein wenig peinlich. Der Kollege, der ihn ausgestellt habe, sei jetzt nicht hier, aber der mache schließlich auch nur seine Arbeit, sagt König in leicht beleidigtem Tonfall.“ Dennoch bleibt König bei seinem Antrag, was die Richterin schließlich mit der Vertagung des Verfahrens quittiert – die Polizisten, die Hagen K. aus dem Kessel begleiteten, sollen noch als Zeugen aussagen. Der Besucherandrang für diese Veranstaltung dürfte noch größer werden.
Derweil werden die ernsten Folgen der Troika-Politik in den Staaten der europäischen Südperipherie, gegen die sich das Blockupy-Bündnis wendet, auch in diesem Jahr Anlass für Proteste sein. Dabei wird es unter anderem im Mai Aktionen in verschiedenen deutschen Städten geben. Unter dem Motto "Solidarity beyond Borders – Building Democracy from below" wird es in Berlin, Düsseldorf, Hamburg und Stuttgart zu Protestaktionen kommen. Auch in anderen europäischen Ländern, unter anderem Italien, Frankreich, Holland, England und Dänemark, sind für den Zeitraum vom 15. bis 25. Mai Protestaktionen geplant.
Die Proteste in Deutschland sollen vor allem am 17. Mai stattfinden, neben Demonstrationen sind Aktionen zivilen Ungehorsams geplant, die an den lokalen Gegebenheiten anknüpfen sollen. So richten sich die Proteste in Düsseldorf gegen die Luxusmeile „Kö“, während etwa in Berlin der „Flüchtlingsmarsch von Straßburg nach Brüssel“ begleitet werden soll.
Außerdem ruft das Blockupy-Bündnis zu einer Großdemonstrationen am 17. Mai in Hamburg auf sowie zur Teilnahme an den Protestaktionen in Brüssel zwei Tage zuvor anlässlich des „European Business Summit“, einem jährlichen Treffen von Wirtschaftseliten und führenden Politikern.
Für die Blockade der Eröffnung des neuen EZB-Towers in Frankfurt, deren genauer Termin noch nicht bekannt ist, mobilisiert das Bündnis zu einer Großdemonstration am „Tag X“.
Alle Informationen zu den geplanten Aktionen können Interessierte auf der Website https://blockupy.org/ einsehen.

Erschienen in Graswurzelrevolution (GWR) 389

Ein gekaufter Boom

Die Türkei galt über mehr als ein Jahrzehnt als eines der erfolgreichsten Schwellenländer. Der große Aufschwung scheint aber vorbei – was bleibt, ist ein Schuldenberg.

Im Sommer 2011 war die Welt in der Türkei noch in Ordnung. Regierungschef Erdogan erschien als unangefochtener Lenker hinter dem wirtschaftlichen Erfolg des Landes und gab den westeuropäischen kapitalistischen Zentren Ratschläge. „Die Finanzkrise hat gezeigt, dass Europa mehr Dynamik und Veränderung benötigt: Europas Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen sind komatös. Die europäischen Volkswirtschaften stehen still“, kommentierte er damals die Probleme der anderen im US-Magazin „newsweek“. Der „Focus“ beschrieb die Türkei als „kräftigen jungen Mann, der nun gewissermaßen über die EU-Grenze die Krankengeschichten der Älteren verfolgt.“
Mit der Herrlichkeit der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte am Bospurus ist es keine 3 Jahre später erst einmal vorbei. Erdogan selbst ist schwer angeschlagen, die türkische Notenbank sah sich Ende Januar gar zu einer Notoperation gezwungen und erhöhte den Leitzins gleich um 5,5 Prozent, von 4,5 auf 10 Prozent. Hintergrund war eine starke Abwertung der türkischen Lira und eine Inflationsrate von über 7 Prozent im Januar 2014.
Dass die türkische Währung Anfang 2014 unter Druck geriet, hatte mehrere Ursachen und zeigt deutlich, wie abhängig die türkische Volkswirtschaft von Kapitalzuflüssen ist. Die Aussicht auf steigende Zinsen in den kapitalistischen Zentren und vor allem den USA ließ nach den Ankündigungen der US-Notenbank Fed, die Liquiditätsspritzen für die US-Wirtschaft zurückfahren zu wollen, die Währungen verschiedener Schwellenländer abrutschen, weil Anleger ihr Kapital massenhaft abzogen, um es in die heimischen Märkte umzuschichten. Mit den politischen Turbulenzen, den Korruptionsskandalen und den Protesten in Istanbul stieg das Risiko für Türkei-Anlagen zusätzlich – Investoren scheuen politische Instabilität. Ein weiteres spätkapitalistisches Wirtschaftswunder war entzaubert.
Im Grunde krankt die nachholende kapitalistische Entwicklung in der Türkei ebenso wie in fast allen anderen Staaten der kapitalistischen Peripherie an der Unmöglichkeit, die eigene Wirtschaft nachhaltig wettbewerbsfähig zu machen. Der Rückstand zu den entwickelten Ökonomien ist hinsichtlich der zu leistenden Kosten, die ein Land wie die Türkei aufbringen müsste, um das Produktivitätsniveau etwa Deutschlands zu erreichen, so unvorstellbar groß, dass eine Annäherung praktisch unmöglich ist. So wurden laut OECD-Studie in der Türkei im Jahre 2010 knapp über 25 Dollar Inlandsprodukt pro Arbeitsstunde generiert, in Deutschland waren es rund 52 Dollar. Selbst nach knapp einem Jahrzehnt mit Wachstumsraten von teilweise um die 10 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsproduktes ist die türkische Wirtschaft in Punkto Wettbewerbsfähigkeit weit davon entfernt, den entwickelten kapitalistischen Zentren auch nur das Wasser zu reichen. In den Jahren 2012 und 2013 normalisierten sich die Wachstumsraten schließlich auf rund 3 Prozent, was die Probleme der türkischen Wirtschaft endgültig zu Tage treten ließ.
Diese bestehen in erster Linie in einer enormen privaten Verschuldung und einem großen Außenhandelsdefizit. Das ausländische Kapital floss in den Boomjahren vor allem in den Immobiliensektor, die Textilindustrie und in Konsumentenkredite.
Die Zuwachsraten beim BIP verdankte die türkische Wirtschaft, ganz im Gegenteil etwa zu Deutschland, vor allem einer steigenden Binnennachfrage, die dauerhaft stärker stieg als die Exporte. In den vergangenen 10 Jahren hat sich dabei zwar das Durchschnittseinkommen in der Türkei verdoppelt, die Schulden der privaten Haushalte haben sich im gleichen Zeitraum aber verachtzehnfacht. Wie die Oppositionspartei CHP mitteilte, stieg der Anteil der Privatverschuldung am verfügbaren Einkommen von 5,5 Prozent im Jahr 2003 auf über 50 Prozent im Jahr 2013. Die zu einem großen Teil kreditfinanzierten Nachfragesteigerungen bei gleichzeitig mangelnder Wettbewerbsfähigkeit führen unvermeidlich zu Außenhandelsdefiziten. Mittlerweile verzeichnet die Türkei das sechstgrößte Handelsbilanzdefizit der Welt, allein im Dezember 2013 fiel ein Minus von 8,3 Milliarden US-Dollar im Außenhandel an und die US-Notenbank Fed stufte die Türkei im Februar 2014 aufgrund der Defizitproblematik als krisenanfälligstes Schwellenland ein. Indes geraten auch die türkischen Unternehmer zunehmend unter Schuldendruck. Der Niedergang der Türkischen Lira verteuert insbesondere die Einfuhr von Erdöl und Erdgas; seit 2008 stieg die Verschuldung der Unternehmen von 65 auf 170 Milliarden Dollar.
Von all dem auf Pump generierten Wachstum konnten große Teile der Bevölkerung in der Türkei kaum profitieren. Zwar hat sich das pro Kopf - Einkommen seit 2003 verfünffacht, allerdings landeten die Gewinne nur bei einer kleinen unternehmerischen Elite. Während das gesamte Durchschnittseinkommen in der Türkei 2012 bei knapp 10.000 Euro jährlich lag, verdienen die unteren 50 Prozent der Einkommensbezieher im Durchschnitt gerade einmal rund 4000 Euro im Jahr. Rund 12 Millionen Türken müssen mit einem Monatseinkommen von ca. 125 Euro auskommen. Besonders krass ist in der Türkei der Unterschied zwischen den Metropolregionen vor allem im Westen der Türkei und dem armen Osten, was zu einer regelrechten Landflucht geführt hat: Allein in den Jahren 2000 bis 2008 siedelten 5 Millionen Landbewohner in die Städte um.
Wie in vielen Schwellenländern geht die neoliberale Rechnung, wonach ein auf Schulden und Kredit basierender Wirtschaftsboom irgendwie schon bei den Massen ankomme, unter den spätkapitalistischen Bedingungen auch in der Türkei nicht mehr auf. Stattdessen verharrt ein Großteil der überschuldeten Bevölkerung in Armut, während die türkische Volkswirtschaft am Tropf internationaler Kapitalströme hängt. Der künstlich erzeugte Aufschwung fällt der Erdogan-Regierung gerade auf die Füße.

Erschienen in Graswurzelrevolution (GWR) 389

Ave »Handelsblatt«!

In Deinem Artikel »Was einen zum guten Chef macht« besprichst Du Managementratschläge des Stanford-Professors Bob Sutton und ziehst folgendes Fazit: »Ein Chef, der seine eigenen Mitarbeiter für Versager hält, muß sich erst einmal an die eigene Nase fassen, so Sutton. Keine neue Erkenntnis: Bereits der römische Senator Titus Petronius, Autor des Romans ›Satyricon‹, gab zu bedenken: Qualis dominus, talis et servus (Wie der Herr, so auch der Sklave).«

Und das bringt die spätkapitalistischen Zustände dann doch sehr hübsch auf den Punkt.

Morituri te salutant.

Titanic

Erschienen in Titanic-Magazin 5/2014

Keine Leckerchen mehr

Mehrere aktuelle Studien beschäftigen sich mit der fortschreitenden Automatisierung der Arbeit. Einig sind sich die Autoren in der Diagnose. Eine Lösung des Problems ist aber nicht in Sicht.

Der ganze Artikel ist im Nachrichtenmagazin Hintergrund erschienen. Er ist nicht online verfügbar, daher kann ich ihn hier nicht veröffentlichen.
logo

Prähistorische Bemerkungen

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Auch die EZB hat Schuld...
Für Nicolai Hagedorn ist die Kritik von Blockupy an...
Nicolai Hagedorn - 6. Jan, 00:28
Ach, und noch was, »Focus...
Wenn Du mit Deiner Überschrift »MH17: Beide Seiten...
Nicolai Hagedorn - 6. Jan, 00:17
Schon gut, »Focus online«-Redakteure!
»Orgasmus durch Pilz – Stinkmorchel bringt Frauen zum...
Nicolai Hagedorn - 6. Jan, 00:14
Klick klick, Pottwale!
Ihr kommuniziert über Klicklaute, und dabei entwickeln...
Nicolai Hagedorn - 6. Jan, 00:04
Umsichtige Durchsagerin...
Kürzlich, als Dutzende Hilfsbereite in Deinen Zuständigkeitsbereich...
Nicolai Hagedorn - 5. Jan, 23:59

Suche

 

Status

Online seit 4109 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 6. Jan, 00:28

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren